Pageturner – Juli 2025: Dunkle LichterLiteratur von Marie Darrieussecq, Diaty Diallo und Adeline Dieudonné
1.7.2025 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann Massute
In „Das Meer von unten“ beschreibt Marie Darrieussecq das, was schon längst nicht mehr unwahrscheinlich ist: Flüchtende werden im Mittelmeer von einem Kreuzfahrtschiff aufgenommen. Mit Konsequenzen für die Urlaubenden. Derweil entwickelt sich die Nacht in der Banlieue, die Diaty Diallo in „Zwei Sekunden brennende Luft“ skizziert, anders als gedacht. Und Adeline Dieudonné entwirft mit dramatisch knappen Kurzgeschichten ein Panorama, das sich so nur an einem klassischen Nicht-Ort entfalten kann: an einer Tankstelle im Nirgendwo. Das Dunkle, es leuchtet hell und eindrücklich.

Das Meer von unten (Affiliate-Link)
Marie Darrieussecq – Das Meer von unten (Secession Verlag, 2024)
Kreuzfahrten sind die Hölle. Eh klar. Aber sie sind auch faszinierende Orte der Hypervirtualität. Wenn nun das Reale in ein solches Setting einbricht, wird es interessant. In Marie Darrieussecqs Kreuzfahrtroman „Das Meer von unten“ ist es ein maroder Fischkutter mit vorwiegend afrikanischen Flüchtlingen, der bei rauem frühwinterlichen Seegang kurz vor dem Versinken auf den Mittelmeer-Cruiser trifft. Die unterkühlten hungrigen Passagiere des Kutters werden zwar ziemlich widerwillig, aber letztlich doch an Bord genommen. Die Erzählerin, eine französische Psychologin, die von ihrer Mutter die vorweihnachtliche Kreuzfahrt als Urlaub von der kriselnden Ehe und dem anspruchsvollen Job geschenkt bekommen hat und mit ihren zwei Kindern eine der billigeren Kabinen belegt, fühlt sich diffus verantwortlich und will helfen.
Die spontane Hilfe für die Schiffbrüchigen löst nach einer impulsiven Tat (sie verschenkt das iPhone ihres Sohnes an einen der jugendlichen Migranten) noch tiefere und länger wirkende Zweifel aus – über die brüchige Liebe zum Ehemann, über den geplanten Umzug aus Paris in die Provinz ihrer Kindheit, generell über ihr Leben und verpasste (und wahrgenommene) Chancen. Dass die Not der Migranten nur bedingt als Projektionsfläche für diese Sorgen taugt, lernt die Erzählerin allerdings schnell. Folgenlos bleibt die Begegnung dennoch nicht, das verschenkte Telefon, der bleibende Kontakt löst einige innere und äußere Reaktionen aus.
Marie Darrieussecq agiert als Autorin erstaunlich genrefrei, sie hat keinen wiederholenden Stil, jedes Buch – von einer kryptofaschistischen Überwachungsstaat-Dystopie zu einer Biografie der Bauhaus-Künstlerin Paula Modersohn-Becker – ist also eine Neuentdeckung. „Das Meer von unten“ ist als psychologischer Entwicklungs- und Familienroman sicher einer der konventionelleren Texte Darrieusecqs, es soll sogar eine Fortsetzung geben. Was Darrieussecq definitiv gut kann, ist Menschen lesen und ihren Beobachtungen einen literarischen Rahmen geben. Das macht jedes ihrer Bücher unabhängig vom Sujet interessant.

Zwei Sekunden brennende Luft (Affiliate-Link)
Diaty Diallo – Zwei Sekunden brennende Luft (Assoziation A, 2023)
Ein Tod in der Vorstadt, Eskalation einer Sommernacht in den Banlieues von Paris, die eigentlich so gut anfing. Nur der übliche Stress mit der Polizei, Ausweiskontrolle gerne dreimal am Tag von den selben Leuten, der selbstgebaute Grill beschlagnahmt, aber wenigstens erstmal keine Prügel. Sonst alles chill im Rahmen des Möglichen, der illegale Rave in einer leeren Parkhausetage läuft auch super an, bis dann die Sirenen und das Tränengas kommen. Aber für einen endet es tödlich, weil zu nervös, zu hastig am Abhauen.
Was dann jedoch passiert, entspricht gerade nicht dem üblichen medialen Bild des brennenden Mülls vor Betonplatte, der ziellosen ungerichteten Gewalt gegen unbeteiligte Menschen, gegen lokale Geschäfte und Schaufenster. Klar ist da die Wut und das nicht mehr zu bändigende Gefühl, dass jetzt endlich Schluss sein muss mit der ewigen Schikane, dem immer währenden Druck und der Angst, das Gefühl, dass es krachen muss, dass es ein Ventil braucht. Doch die Wut transformiert sich zumindest teilweise in Bewegung, in Tanzen sogar, in eine verzweifelte Party der Trauer, in einen Rave der melancholischen Wut. Der Debütroman der Französin Diaty Diallo schildert das mit enormer poetischer Kraft in zeitgemäß nichtlinearer schleifenartiger multiperspektivischer Erzählung. Das ist denn auch in der lyrischen bildreichen Sprache eine realistischere und lebensnähere Betrachtungsweise, als es eine journalistisch kritische je sein könnte. Explosion und Befreiung nicht in Gewalt (nicht nur), sondern in Sprache und Musik. Eine sehr schöne, sehr wahre Utopie.

23 hr 12 (Affiliate-Link)
Adeline Dieudonné – 23 Uhr 12 (dtv, 2022)
Short Cuts von der Nachttanke, Autobahnraststätte besser gesagt. Vor Mitternacht, zwölf erzählende Leute, ein Pferd, eine Leiche im Kofferraum. Ein Panorama der zufälligen und doch nicht zufälligen Verbindungen an einem klassischen Nicht-Ort, an einem Transitraum. Heterotopie in einer schwülen Sommernacht am Rande der Autobahn in den Ardennen. Alles ziemlich krass, brütend, illusionslos, vor dem Gewitter, nach dem Sturm, vor der Explosion, nach dem Kollaps.
Das Romandebüt der belgischen Schauspielerin, „Das wirkliche Leben“ vor vier Jahren, war ähnlich knapp, ähnlich heftig und dringlich wie diese kürzesten zusammenhängen Kurzgeschichten. Wie im Debüt gibt es hier Brutalität und Verwahrlosung (innere und äußere), Spießertum und Gewalt – durch das transitorische Setting wirkt aber alles weniger ausweglos düster und existenziell verloren. Auch wenn die meisten, eigentlich alle, Figuren genau das sind: verloren, transzendental obdachlos. Nicht unbedingt harmloser, aber eben offener. Die auf minimale Essenz eingedampfte Lakonik der Stücke hat tatsächlich etwas von Raymond Carver, ist aber in jeder Hinsicht heutig. Die Perspektive weniger männlich und von zeitgenössischer Aufmerksamkeitsökonomie. Das ist kein Nachteil des Textes, die Kunstfertigkeit liegt darin, dass beinahe alle Zier, sämtlicher Kontext weggefallen ist und dennoch starke klare Bilder entstehen, die lange nachwirken.