Plattenkritik: KMRU – Natur (Touch)Das Brummen der Stadt

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Joseph Kamaru ist ein Meister der Soundscapes. Mit „Natur“ thematisiert der Kenianer die vermeintliche Stille der Stadt.

Es geht um Perspektiven. Um Konzentration und das Abschweifen im Tunnel des Fokus. Mir ist das in den vergangene Tagen selbst immer wieder aufgefallen. Ich wohne in einer vergleichsweise ruhigen Straße mit für die Gegend minimalem Durchgangsverkehr. Die Läden öffnen spät, die morgendliche Stille wird nur selten unterbrochen. Die Müllabfuhr kommt gegen 6.30 Uhr, ganz egal welcher Dienstleister nun seine dicken LKWs durch die Straße manövriert. Danach wird es wieder still. Sogar das Management der poshen Privatschule nebenan hat es irgendwie geschafft, den SUV-Eltern zu verklickern, dass man sich nicht gegenseitig anhupen muss. Jetzt, in den Sommerferien, ist es noch stiller. Das verändert meine Wahrnehmung von Musik und Sound. Als Schreibtischarbeiter brauche ich eine Klangtapete, die präsent genug ist, um in meinem Gehirn anzukommen, darf aber gleichzeitig nicht stören, bzw. die Oberhand gewinnen, z.B. mit Beats oder Vocals. Stille, die keine Stille ist. Damit kennt sich KMRU aus. Dass er bislang noch nicht auf Touch veröffentlicht hat, ist eigentlich kaum vorstellbar.

Auf „Natur“ beschäftigt sich KMRU musikalisch mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen der Nacht und ihrer Atmosphäre, bzw. den atmosphärischen Störungen, die die Zivilisation und ihre Errungenschaften über die vermeintlich stillen Stunden wirft – von Klang bis Licht. So zumindest meine Interpretation des etwas blumigen Pressetextes. Zum Glück spielt der tatsächliche Trigger für diese Kompositionen keine Rolle. Die fünf Stücke sind so dicht wie leer, so laut wie leise, so rauschig-noisig wie deep und emotional. KMRU schichtet die Drones und Field Recordings mit derartiger Verve, dass man sich nicht nur mit Hochgenuss darin verlieren kann und möchte, sondern sich parallel dazu die Pulsader ritzen möchte, um sich so viel elektromagnetische Strahlung wie nur irgend möglich in den Blutkreislauf zu pumpen. Das Kratzen des Digitalen, das Restgeräusch der Stromerzeugung, der Überspannungsschutz von Schaltkreisen: All dies kippt KMRU in seinen Rechner als Input. Das Output ist eine unberechenbare 360°-Attacke auf alle Sinne. Wenn Joseph Kamaru es mit den Aufnahmen seiner elektromagnetischen Mikrofone bitzeln lässt, klingt das wie ein Angriff der Killer-Ameisen – eine klangliche Abstraktion, die Oscar Salas Arbeit für Hitchcocks „Die Vögel“ wie Fahrstuhlmusik klingen lässt.

„Natur“ ist eine Bomberstaffel der Nullen und Einsen, etwas, was nur digital entstehen konnte als ultimativer Take des scheinbar ewig gültigen Mensch-Maschine-Spiels. Ein mutiger Abriss aller Ambient-Konventionen, aller Schönfärberei, aller instagrammierten Wohlfühl-Tipps. Und ist dabei doch so offen und einladend, dass der Stacheldraht am Eingang dieses sonischen Irrgartens nie zusticht. Würde man diese Musik an die Betonwände des Berliner Humboldt-Forums werfen – der Schloss-Nachbau würde in der Spree versinken. Würde man diese Musik auf die Ruine der NSA-Station auf dem Teufelsberg werfen – der Kalte Krieg würde wieder richtig kalt. Und würde man schließlich dieses Album morgens um zwei Uhr im öffentlich-rechtlichen Rundfunk spielen, würde die schläfrige Besatzung des Schaltraums als Wächter:innen über die Frequenzen umschalten auf Radio Luxemburg.

Alles richtig gemacht, KMRU. Genau richtig.

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